Ja zur Unschuldsvermutung

Ein Beitrag von Axel Wintermeyer, rechtspolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion

Eine funktionierende Justiz, eine nach Recht und Gesetz arbeitende Verwaltung sind unschätzbare Errungenschaften; nicht umsonst gelten sie in der Wirtschaft als „harte Standortfaktoren“.

Dass wir über eine gute Justiz in Deutschland verfügen, wird bei aller Klage über die langsam mahlenden Mühlen deutscher Gerichte gerne vergessen. Nicht umsonst genießen sie weltweit hohes Ansehen. Dies beruht auf einem Grundsatz, der in Deutschland nach den schrecklichen Erfahrungen des Dritten Reiches wie in kaum einem anderen Land der Welt verwurzelt ist: dem Rechtsstaatsprinzip. Es garantiert Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit für jedermann ohne Ansehung der Person.

Aber gerade weil unser gesamtes Staatsverständnis darauf aufgebaut ist, müssen wir Gefährdungen des Rechtsstaatprinzips besonders aufmerksam entgegen treten. Aktuell droht einer fundamentalen Ausprägung dieses Prinzips Gefahr: der Unschuldsvermutung im Strafprozess.

Nach ihr gilt jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, bis zum Beweis ihrer Schuld als unschuldig. Leider wird das gerade in aufgeregten Zeiten wie diesen gerne vergessen – daher ist die mediale Vorverurteilung die größte Gefahr für die Unschuldsvermutung. Die Nachrichtendichte und ihre schnelle Verbreitung hat derart zugenommen, dass nur noch besonders grelle Schlagzeilen wahrgenommen werden – so scheinen zumindest viele „Nachrichtenmacher“ zu denken. Entlarvung und Skandalisierung dienen zur Steigerung von Auflagen und Quoten – oder auch des eigenen Ansehens auf Kosten anderer.

Gelegentlich fragt man sich, wer eigentlich verurteilt: die Medien oder die Richter? Ein Beispiel unter vielen war kürzlich das Ermittlungsverfahren gegen den 1860-Präsidenten Karl-Heinz Wildmoser. Eine gelinde gesagt „offensive“ Medienpolitik der Staatsanwaltschaft, ein Münchner Oberbürgermeister, der in aller Öffentlichkeit die Vorwürfe bereits als erwiesen erscheinen lässt, um von dem alten Weggefährten „im Interesse der Stadt“ medienwirksam Abstand nimmt: Das reicht für die nächste Doku-Soap, die Vorlage für einen Sonntagabend-Krimi und Balkendicke Überschriften in bekannten bunten Blättern. Die Unschuldsvermutung wird dabei völlig vergessen.

Ähnlich war es beim kürzlich eingestellten Ermittlungsverfahren gegen Helmut Kohl und Mitarbeiter wegen angeblicher Datenvernichtungen im Kanzleramt 1998: Von einer groß aufgezogenen Medienblase inklusive „Sonderermittler“ Hirsch, der nach oberflächlichen Vernehmungen bereits groß angelegte Manipulationen erkennen wollte, blieb kein Funken der medialen Vorverurteilung übrig. Auch die zunehmend aggressiver werdenden Pressemitteilungen der Staatsanwälte überraschen: Im Zuge der Düsseldorfer Mannesmann-Ermittlungen musste das Land Nordrhein-Westfalen für Äußerungen der eigenen Staatsanwälte Schadensersatz an Klaus Esser zahlen, weil sie ihn der „Käuflichkeit“ bezichtigt hatten, obwohl er dafür noch gar nicht verurteilt war – ein gleichermaßen beispielloser wie peinlicher Vorgang! Bisher kannte man diese Instrumentalisierung der Medien nur von gewieften Verteidigern.

Wohlgemerkt: Von der Anordnung der Untersuchungshaft gegen Wildmoser oder der Durchführung des „Mannesmann-Prozesses“ bleibt die Unschuldsvermutung unberührt; denn diese Maßnahmen bezwecken erst die Klärung des Tatvorwurfs.

Doch Medien wie Öffentlichkeit müssen sich darüber klar werden, was aus einer aggressiven, sensationsbetonten Berichterstattung unter Außerachtlassung der Unschuldsvermutung resultieren kann: Ein irreales Klima der Verunsicherung und der Kriminalitätsangst. Vor allem entsteht das Gefühl – wenn das Vorurteil nicht bestätigt wird, – die Justiz funktioniere nicht. Die Unschuldsvermutung muss als Maßstab für die Beurteilung von öffentlichen Berichten über Strafverfahren uneingeschränkt gelten. So will es nicht nur das Grundgesetz, sondern auch die Europäische Menschenrechtskonvention. Damit das Verfahren der Rechtsfindung nicht in einer verhetzten, sondern in ruhiger, sachlicher Atmosphäre ablaufen kann.

Etwas mehr Gelassenheit stünde also den Berichterstattern ebenso wie denjenigen, an die berichtet wird, in Zukunft gut zu Gesicht. Im Interesse des Rechtsstaats – und damit im Interesse von uns Allen. Bedenken wir: Ein Vorurteil ist die schlechteste Urteilform, die es gibt.

Axel Wintermeyer ist rechtspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Hessischen Landtag.