Menschliches Leben ist nicht disponibel

Ein Beitrag von Axel Wintermeyer, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion im Hessischen Landtag

Das Leben gehört zur Kategorie der höchstpersönlichen Rechtsgüter. Vor Eingriffen in dessen Schutzbereich wird durch unsere Rechtsordnung in besonderem Maße geschützt. Dies manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass zum Schutz des Lebens Handlungen gerechtfertigt oder entschuldigt und somit straffrei sein können, welche im Hinblick auf den Schutz anderer Rechtsgüter geringerer Wertigkeit nicht zulässig wären. Wer das Leben schützt, darf mehr, handelt privilegiert. Aber erlaubt diese Privilegierung auch einen Umkehrschluss? Darf der Mensch, dem die Rechtsordnung besonderes Handeln zum Schutz auch des eigenen Lebens zubilligt, im Gegenzug auch genau das Gegenteil, nämlich das eigene Leben aufgeben? Bei einer ersten Betrachtung scheint dieser Umkehrschluss von der Rechtsordnung gebilligt; so steht die versuchte Selbsttötung nicht unter Strafe. Es stellt sich jedoch die Frage, ob ein solcher Umkehrschluss auch in Bezug auf Dritte gelten kann; ob ein Sterbewilliger sich also anderer bedienen darf, um sein Ziel zu erreichen.

Hamburgs Justizsenator Roger Kusch hat unlängst einen Vorstoß in diese Richtung gewagt und eine Neufassung des § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) angeregt. Begründet hat er seinen Vorstoß genau mit dem genannten Umkehrschlussargument, indem er postulierte, da es sich beim Leben um ein höchstpersönliches Rechtsgut handele, stünden den Bürgern eigenverantwortliche Entscheidungen und Dispositionen zu. Ziel ist dabei, neben der richterrechtlich anerkannten passiven Sterbehilfe eine legale Form der aktiven Sterbehilfe zu kodifizieren.

Dem widerspricht allerdings bereits ein anerkannter Grundsatz des Strafrechts, den Generationen von Juristen verinnerlicht haben: „Menschliches Leben ist nicht disponibel.“ Wenn es jedoch, wie Kusch meint, an der Zeit ist, mit einer althergebrachten Rechtstradition zu brechen, so erfordert dies argumentativ mehr als einen bloßen Umkehrschluss. Auch unter den höchstpersönlichen Rechtsgütern steht das Leben nicht gleichrangig mit anderen. Vielmehr kommt dem Rechtsgut Leben bereits aufgrund seiner existenziellen Bedeutung eine besondere Stellung zu. Wer dies in Frage stellt, wird nicht umhinkommen, die Argumente, die für die privilegierte Position des Lebens sprechen, zu entkräften.

In der gesellschaftlichen Debatte um aktive Sterbehilfe werden vornehmlich historische, christliche oder ethisch-moralische Argumente genannt, die gegen eine aktive Sterbehilfe sprechen. Aber auch rechtsdogmatisch lässt sich gut begründen, warum eine aktive Sterbehilfe mit unserer Rechtsordnung nicht zu vereinbaren ist. In unserem Rechtsgefüge wird jede Form der Tötung eines anderen Menschen als verwerfliche Tat angesehen; Verstöße finden folgerichtig ihren Niederschlag im Strafgesetzbuch. Eine Straffreiheit kommt im Falle der Tötung eines anderen Menschen grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn der Täter auf der Grundlage der Regeln der Notwehr oder des entschuldigenden Notstandes handelt. Bedingung ist dabei jedoch immer auch eine gegenwärtige Angriffs- bzw. Gefahrensituation.

Als Königsargument zieht Kusch die strafrechtliche Norm des § 218a StGB heran, wonach eine Schwangere, wenn sie die Vorraussetzungen dieser Norm erfüllt, nicht wegen Schwangerschaftsabbruchs im Sinne des § 218 StGB zu bestrafen ist. Er verkennt hierbei jedoch, dass § 218a StGB eine Tötungshandlung an einem Dritten auch nicht „aus der Luft“ heraus gestattet – im Gegenteil. Die Norm des § 218a StGB stellt gerade auf die besondere Beziehung zwischen Mutter und Kind ab. Und gerade an einer solchen „besonderen Beziehung“ fehlt es zwischen Opfer und Täter im Falle einer aktiven Sterbehilfe. Es gibt in diesem Falle keine Verbindung, die rechtsdogmatisch die Tötung eines Dritten als von vornherein straffrei gestalten könnte. Die aktive Sterbehilfe ist davon gekennzeichnet, dass der Täter gerade nicht in eigenen Rechten betroffen ist. Es wäre sodann dogmatisch nicht nachvollziehbar, eine Strafbarkeit de lege ferenda von vornherein auszuschließen.

Eine Straffreiheit der aktiven Sterbehilfe käme daher nur ausnahmsweise auf der Grundlage der strafrechtlichen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsregeln in Betracht. Anknüpfungspunkt müsste der Zustand des Opfers und dessen ernsthafter Wille zu sterben sein. Aber lassen sich Zustand und ernsthafter Wille wirklich wahrheitsgemäß und unmissverständlich zuverlässig erfassen? Gerade bei Alzheimer- oder Komapatienten stellt sich zudem die Frage, auf welchen Zeitpunkt hinsichtlich des Vorliegens eines ernsthaften Sterbewillens abgestellt werden soll. Wer will sicher beurteilen können, ob ein ernsthafter Sterbewille besteht, wenn sich das Opfer nicht mehr selbst erklären kann? Grausam ist die Vorstellung, regungslos – unfähig zu einer Willensäußerung – in den Tod „geschickt“ zu werden, weil vor Jahren – vielleicht sogar notariell und ärztlich beraten – erklärt wurde, dass man unter bestimmten Bedingungen eine aktive Sterbehilfe wünscht und der behandelnde Arzt zu dem Schuss kommt, dass diese Bedingungen nun vorliegen. Gerade im Kontext einer immer älter werdenden Gesellschaft müssen wir uns auch die Frage gefallen lassen, ob der ernsthafte Wille der Betroffenen immer Leitmotiv des so genannten „humanen Sterbens“ ist oder ob nicht vielmehr der Wille von Angehörigen oder der Gesellschaft, Alter und Krankheit nicht sehen oder ertragen zu müssen, mehr Gewicht bei der Entscheidung haben könnte. Unbeachtlich, an welche Vorraussetzungen eine aktive Sterbehilfe geknüpft würde: Absolut sichere Kriterien werden sich nicht finden. Aus einem ungewissen Zustand oder Willen des Opfers kann folglich eine Rechtfertigung oder Entschuldigung für die Tötung eines anderen Menschen nicht hergeleitet werden. Dafür sind die Umstände zu vage, das Risiko von Fehlentscheidungen zu hoch und das betroffene Rechtsgut zu wichtig. Menschliches Leben darf daher auch weiterhin nicht zur Disposition stehen.